Gretchen oder Margarete? Wer bin ich und wenn ja, wie viele?

Die Frauenfigur in Goethes Drama „Faust I“ wird im Laufe des Dramas mal als „Margarete“ und mal als „Gretchen“ vorgestellt. Damit sind nicht etwa zwei unterschiedliche Figuren gemeint, viel eher wird eine personale Spaltung der Frauenfigur deutlich gemacht. Wenn sie mit „Margarete“ angesprochen wird, lässt das auf eine reife, junge Frau schließen, die wohlüberlegt an die verschiedenen Stationen ihres Lebens herangeht. Wenn sie jedoch mit „Gretchen“ angesprochen wird, vermutet man dahinter eine kindliche, naive Person, die die Probleme der Welt entweder nicht wahrnimmt oder nicht ernst nimmt, da sie in ihrer eigenen Gefühlswelt festgefahren ist. Am Anfang der sogenannten „Gretchentragödie“ (also dem Drama im Drama) ist es noch Margarete, die mit einer gesunden Portion Verstand an die sich ihr stellende Problematik, nämlich das Interesse Fausts an ihr, herangeht. Sie behält auch während der Kennenlernphase einen kühlen Kopf und ist zunächst unsicher, ob sie sich auf einen fremden, anscheinend wohlhabenden und gebildeten Mann einlassen soll, da sie zweifelt, ob sie ihm genügen kann. Sie ist sich zu diesem Zeitpunkt sicher, dass sie zu jung für eine Ehe ist, was von einem gewissen Verantwortungsbewusstsein zeugt. Gleichzeitig weiß sie aber auch um ihrer Pflichten, sollte sie sich entschließen bei Faust zu bleiben. Als sich Margarete und Faust im Gartenhäfeder kuschen der Nachbarin schließlich näher kommen, schwindet der klare Verstand von Margarete allmählich. In der Szene „Gretchens Stube“ (V. 3374-3412) ist sie völlig besessen von ihrem Verlangen nach Faust. Zu dem Zeitpunkt ist sie sehr einfach durch Faust zu beeinflussen und ignoriert alle eventuell aufkommenden Probleme, die mit Faust einhergehen könnten. Für sie zählt nur der Moment, sie denkt nicht weiter und wird somit von ihrer kindlichen, unwissenden und naiven Seite dominiert. In der darauffolgenden Szene „Marthens Garten“ (V. 3413-3543) gewinnt die Vernunft für kurze Zeit wieder die Oberhand, doch nur um Faust die Glaubens-Gretchen-Frage zu stellen. Als er diese mit einer, für Margarete völlig unzureichenden Antwort, quittiert, reagiert sie nicht wie erwartet mit Abweisung, sondern verabredet sich mit Faust sogar zur Liebesnacht, wofür sie ihrer Mutter sogar einen Schlaftrunk verabreicht, der diese schließlich tötet. Auch hier zeigt sich wieder die unwissende Seite – also Gretchen – der Figur, da sie nicht im Geringsten über die Folgen ihres Handelns nachdenkt. In den letzten Szenen des Dramas wird Gretchen von diversen äußeren Faktoren (Gespräch mit Lieschen über die gemeinsame Bekannt, die verlassen schwanger wurde…) und den Folgen ihres vorherigen Handelns (Tod der Mutter) eingeholt und in den Wahnsinn getrieben. Auch ihr Gewissen – in Form eines bösen Geistes – lässt ihr keine Ruhe. Aus lauter Verzweiflung ertränkt sie ihr Kind, woraufhin sie im Kerker landet. Im Kerker gelangt sie schließlich zu der Erkenntnis, die Sünden von sich nehmen zu können, indem sie sich ihrer Verurteilung stellt und den Tod akzeptiert. Sie weist Faust ab und schlussendlich gewinnt „Margarete“ wieder die Oberhand und wird „gerettet/ gerichtet“. (Marie Reepschläger)


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